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AutorenbildIngeborg Weser

Trennung tut weh- und hat Folgen!

Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag von Ingeborg Weser auf einem Kongress für Hebammen in Bensberg (D).


Als Psychotherapeutin interessiere ich mich sehr für die frühesten Erfahrungen von Menschen mit Menschen. Ich interessiere mich dafür, welche Art von Beziehungen ein Mensch braucht, um ein emotional gesundes Leben zu führen. Und natürlich dafür, welche Erfahrungen dies behindern. Wir wissen heute, dass die Qualität früher Beziehungserfahrungen einen großen Einfluss hat auf die Entwicklung der Persönlichkeit und bis ins Erwachsenenalter hineinwirkt. Die Persönlichkeit eines Menschen ist letztlich natürlich ein Produkt seines gesamten Lebens. Die ersten Jahre des Lebens stellen aber quasi das Fundament dar, auf dem gebaut wird. Ist das Fundament stabil, dann kann auch ein stabiles Haus darauf gebaut werden.


Wie entsteht dieses emotionale Fundament in einem Menschen eigentlich? Was für ‚Baumaterialien‘ dafür gebraucht werden, wer daran mitbaut, und welcher Bauplan unter welchen Bedingungen dafür geeignet ist. Und natürlich auch, woran es liegen könnte, wenn das Fundament zu viele Risse und Mängel aufweist.


Fangen wir mit der wichtigsten Prämisse an.


Das emotionale Fundament entsteht durch Beziehungen

Es ist die Qualität der Beziehungen, durch die das emotionale Fundament aufgebaut wird: im Prinzip geht es dabei um die Beziehungen zwischen Mutter, Vater und Kind. Es geht darum, wie weit sie einander fühlen und wahrnehmen, Interesse aneinander haben und wie sie miteinander umgehen. Das Beziehungsgefüge ist dabei immer sehr komplex und beruht auf Gegenseitigkeit. Sogar das Baby sucht schon aktiv nach 'Beziehung'. Es wendet sich den Eltern zu, schaut sie mit großen Augen an, weint herz-zerreißend und lacht herz-erweichend, es gestikuliert etc. Seine Anwesenheit weckt in den Eltern mütterliche Zärtlichkeit, Sorgsamkeit, Beschützerinstinkte und eine ganze Menge Liebesgefühle. Aber lassen Sie uns von Anfang an beginnen. Denn die ersten Beziehungserfahrungen macht das Kind im Mutterleib.


Die erste Beziehung

Auch im Mutterleib findet Beziehung statt. Das pränatale Kind, sei es nun ein Zellhäufchen, ein Embryo oder ein Fötus ist nur denkbar im Zusammenhang mit der gebärmütterlichen Umgebung. Ihre Qualität wirkt ein auf die Entwicklung dieses pränatalen Kindes, genauso wie seine Anwesenheit die mütterliche Umgebung ganz dramatisch verändert. Das ist nicht nur ein rein körperliches Geschehen, sondern auch ein emotionales.


Ganz deutlich wird das daran, dass das pränatale Kind über die Nabelschnurverbindung den emotionalen Zustand der Mutter beinah ungefiltert 'mitbekommt'. “Es trinkt mit, es raucht mit, es liebt mit und haßt mit, es vergnügt sich mit und es leidet mit. Es empfindet ihre Herztöne mit, erschrickt, wenn sie erschrickt, sorgt sich um sie, weil es ohne sie nicht leben kann, sein Leben hängt von ihr und von ihrem Leben ab.” Nicht nur Sauerstoff und vielfältigste Substanzen erreichen das Kind: Geräusche und Töne von innen und außen wirken auf die intra-uterine Welt des Fötus ein. Die Gefühlswelt der Mutter ist seine Gefühlswelt. Ihre Körper und Seelen sind dabei untrennbar miteinander verbunden. Das Kind erlebt den körperlichen und emotionalen Zustand der Mutter mit; genauso wie die Mutter - bewusst oder unbewusst- den Zustand des Kindes miterlebt.


Wir wissen noch nicht ganz genau, welche 'Bauarbeiten am emotionalen Fundament' während der pränatalen Entwicklung förderlich sind. Es ist schwierig das wissenschaftlich zu untersuchen. Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass es dem Kind dann gut geht, wenn es der Mutter gut geht. Wenn sich die Mutter durch äußere oder innere Bedingungen belastet fühlt, dann kann sich das auf das Kind in negativer Weise auswirken: Kinder von Frauen, die in ihrer Schwangerschaft chronischen Stress erleben, haben z.B. tendenziell ein zu niedriges Geburtsgewicht, werden zu früh geboren und zeigen als Baby vermehrt Schlaf- und Esstörungen, motorische Unruhe, erhöhte Erregbarkeit. Wir müssen also davon ausgehen, dass diese Kinder schon im Mutterleib gewisse Stressmuster gelernt haben. Das ist z.B. auch nachweisbar für Depressivität. Neugeborene von Müttern, die im letzten Drittel der Schwangerschaft depressiv waren, zeigen dieselben physiologischen Profile wie ihre Mütter. Für den Aufbau des emotionalen Fundamentes scheinen besonders Beziehungsbedingungen hinderlich zu sein, in denen es für das Kind um Leben und Tod geht: z.B. ein überlebter Abtreibungsversuch bzw. Situationen, die die Mutter in Panik und größte Angst und Unsicherheit versetzen wie: eine Konzeption durch Vergewaltigung, häusliche und gesellschaftliche Gewalt, ernste finanzielle Krisen, Scheidung vom Partner, Tod eines nahen Angehörigen etc.


Positiv wirken sich dagegen folgende Beziehungsbedingungen aus: ein mütterlicher Organismus, der dem pränatalen Kind einen ausbalancierten Rhythmus von Aktivität und Ruhe bietet, es mit gesunden Substanzen versorgt, es schützend umhüllt, bei dem es willkommen ist, der es fühlt und ihm Platz und Raum gibt.


Der Organismus lernt aus positiven und negativen Beziehungserfahrungen

Egal ob es sich um positive oder negative Beziehungsbedingungen handelt: der Organismus wird dadurch beeinflusst und lernt daraus. Die Beziehungserfahrungen werden im Organismus bewahrt und wirken weiter. Das Kind nimmt sie mit in die nächste Entwicklungsphase: die Geburt. Wahrscheinlich wird der Vorgang der Geburt durch die pränatalen Beziehungserfahrungen gefärbt.


Beziehung und Geburt 


Die Geburt ist wahrscheinlich das dramatischste Ereignis im Leben eines Menschen. Ein Körper mit einem viel zu großen Kopf muss sich durch eine viel zu kleine Öffnung quetschen, wobei es die Frage ist, ob z.B. die Sauerstoffzufuhr auf dieser abenteuerlichen Reise eigentlich gewährleistet ist. Auch die Geburt ist - zumindest zum Teil- Ausdruck derkörperlichen und emotionalen Beziehungsgestaltung zwischen Mutter und Kind. Dazu kommt natürlich die Einflussnahme auf das Geschehen durch den Vater und andere Personen, wie z.B. die Geburtshelfer. Sie alle können den natürlichen Geburtsvorgang fördern oder behindern.


Welche Bedingungen helfen dem Kind beim Weiterbau an seinem emotionalen Fundament? Am wichtigsten ist wahrscheinlich die Fähigkeit der Mutter, sich dem Geburtsprozess hinzugeben, anders ausgedrückt: während der Geburt mit dem Kind in Kontakt zu bleiben. Förderlich ist weiterhin, wenn die Mutter die Geburt bewusst miterleben kann, sie sich sicher fühlt, sie in ihrer Kapazität, ein Kind gebären zu können, unterstützt wird und ihr und ihrem Partner so viel wie möglich Zeit, Gelegenheit und Hilfe geboten wird, unmittelbar nach der Geburt Kontakt mit ihrem Kind aufzunehmen. Trotz der Intensität und Dramatik des Geschehens scheint für das Kind die Unterstützung des natürlichen Geburtsvorganges in physischer aber auch in emotionaler Hinsicht günstig zu sein. Forschungen zeigen, dass der Organismus des Kindes bei einer natürlichen Geburt durchaus geschützt ist und eigentlich ziemlich optimal auf die Welt 'draußen' vorbereitet wird: z.B. dämpfen Endorphine den Schmerz, die Stresshormone reduzieren die Herzfrequenz und den Sauerstoffbedarf und lassen das Neugeborene in der ersten Stunde seines Lebens die Welt in vollster Aufmerksamkeit in sich aufnehmen: magische Minuten in der ersten Beziehungsaufnahme zwischen Mutter und Kind.


Frühgeburt- Risse im Fundament?

Allerdings gibt es wenig "Bilderbuchgeburten". Manchmal sind sogar physische Trennungen nicht zu vermeiden. Um das Leben von Mutter und Kind zu retten, muss es z.B. in eine Kinderklinik verlegt werden. Besonders dramatisch ist dies bei frühgeborenen Kindern der Fall. Ein Leben in einem viel zu großen Brutkasten mit viel zu viel Licht, lauten Geräuschen, schmerzhaften Manipulationen und viel zu wenig nahem Berührungskontakt ist ziemlich wahrscheinlich nicht förderlich für den Aufbau eines emotionalen Fundamentes: es wird entschieden zu wenig Sicherheit und Entspannung geboten. Vor allem die Trennung von dem vertrauten mütterlichen Körper ist emotional eine traumatische Erfahrung. Wir müssen davon ausgehen, dass sie mit Rissen im Fundament einhergeht. Neue Formen der Neonatologie, bei der auch die emotionalen Bedürfnisse des Kindes und seiner Eltern berücksichtigt werden, beweisen allerdings, dass diese 'Risse' durchaus wieder gekittet werden können.


Bauen an positiven Beziehungen = Bauen am emotionalen Fundament

Dies gilt übrigens für wahrscheinlich alle Risse im Beziehungs-Fundament. Eine Mutter, die ihr Kind im Bauch nicht lieben konnte, kann das vielleicht später durchaus und kann vieles, was damals an Bindung nicht möglich war, später noch kompensieren. Menschen sind körperlich und psychisch sehr flexible Wesen: sie können sich widrigen Umständen anpassen, um zu überleben; im Kontakt mit heilsamen menschlichen Beziehungen und Lebenssituationen können sie aber auch wieder entspannen und 'gesund' werden. Je früher dies geschieht, desto besser. Auch wenn wir aus der Psychotherapie wissen, dass auch frühe emotionale Wunden in Erwachsenen heilen können, so gilt doch: je früher, desto besser. Wenn wir Frühgeborene, Babys, Kinder und ihre Eltern in emotionaler Not darin unterstützen können, wieder eine positive Beziehung zueinander aufzunehmen, dann helfen wir großes Leid zu verhüten.


Die postnatale Beziehung - einen sanften Übergang schaffen

Welche emotionale Betreuung braucht ein Neugeborenes, damit sein emotionales Fundament sich optimal aufbauen kann?


Versuchen wir uns einmal, in die Welt eines Neugeborenen einzufühlen: Mit der Geburt hat das neugeborene Kind gerade ein dramatisches Ereignis hinter sich: der Übergang von der extremen Nähe und den vertrauten Lebensumständen in der Gebärmutter in eine Welt mit neuen unbekannten Reizen, viel zu viel Licht, viel zu viel Geräusch und vor allem viel zu viel Raum. Glücklicherweise gibt es ein paar Anhaltspunkte. In der Gebärmutter hat das Kind ja 9 Monate Zeit, seine 'Gebär'-Mutter kennenzulernen: es hat ihre und die Stimme des Vaters gehört, es kennt ihre Art, sich zu bewegen. Die Muttermilch ähnelt im Geschmack dem Fruchtwasser. Und natürlich hat das Kind die Erfahrung, vom mütterlichen Körper umhüllt und getragen zu sein. Wie schon erwähnt, machen die geburtlichen Stresshormone es in den ersten Stunden nach der Geburt sehr bereit für eine Kontaktaufnahme mit seinen Eltern. Die Eltern können dann beinah nicht anders, als sich unsterblich in das Kind zu verlieben: dies hat eine wichtige biologische und emotionale Funktion: hier beginnt eine neue Form der Bindung; ähnlich wie die in der Gebärmutter, aber auch wieder anders. Eltern und Kind brauchen Zeit und Gelegenheit dazu, diese neue Bindung kennenzulernen und aufzubauen.


Bemuttern


Allgemein gesagt braucht das Neugeborene also seine Mutter in seiner unmittelbaren Nähe. Sie ist immerhin die Person, die es am besten kennt. Sie kann ihm ein Gefühl der Sicherheit und Vertrautheit vermitteln. Der Vater kann diese Funktion, außer wenn es um das Stillen geht, in ähnlicher Weise erfüllen. Auch er gehört zur bekannten Welt des Kindes. Die beste Art, mit dem Kind umzugehen, auch wenn es sich um fremde Personen handelt, ist jedenfalls ein 'mütterliches' Verhalten. Das gilt, was Babys betrifft, auch für Männer. Wenn ich also jetzt von 'Mutter' spreche, meine ich nicht unbedingt die biologische Mutter, sondern beschreibe damit allgemein eine mütterliche Haltung, jemand der die Rolle der Mutter ausfüllt, jemand der bemuttert.


Genährt werden

Stillen ist die natürlichste Art, dem Kind Nahrung zukommen zu lassen. Die Zusammenstellung der Muttermilch ist genau richtig. Das Kind fühlt ziemlich genau, wann und wieviel es essen muss. Es hat ein deutliches Mittel, das bekannt zu machen. Es kann herzzerreißend schreien: ein klares Signal, dass die Mutter in Aktion kommen muss.

Aber Stillen ist viel mehr als nur pure Nahrungszufuhr. Es beruhigt, vermittelt Sicherheit und ist sozusagen flüssige Liebe. Wir wissen heute, dass das Einschießen der Milch mit der Aktivierung des Hormons Oxitozin einhergeht. Michel Odent, der bekannte französische Geburtshelfer, nennt dieses Hormon das "Liebeshormon". Es wird nämlich auch bei erwachsenen Personen ausgeschüttet bei angenehmer Berührung, bei sexueller Aktivität, aber auch bei als befriedigend erlebten sozialen Kontakten. Es geht einher mit einem Gefühl des Glücks und der Bereitschaft sich zu binden. Über das Stillen lernt das Baby dieses Glück kennen. Es lernt, dass es schön ist, Menschen zu brauchen und bei ihnen zu sein. Dass sie potentiell befriedigend sind. Und dass es gut ist, sich an sie zu binden.


Berührt werden

Berührung ist ein wichtiger Teil des Stillens, ist aber nicht auf das Stillen beschränkt. Enge körperliche Nähe mit der Mutter ist für das Kind bekannt und vertraut. Dann fühlt es sich zuhause. Dann fühlt es sich sicher. Dann kann es sich entspannen. Normalerweise fühlt auch die Mutter instinktiv den Wunsch, dem Kind nah zu sein. Meistens passen die Bedürfnisse gut zusammen.


Warum braucht das Kind Berührung? Einmal, wie gesagt, weil taktile Stimulation an die gebärmütterliche Lebenssituation erinnert. Aber es geht noch um mehr: Durch die Berührung nimmt das Baby seine eigene Haut wahr. Die Haut ist das größte Sinnesorgan des Menschen. Sie umhüllt den Körper. Sie hält ihn quasi zusammen. Sie stellt eine Grenze dar zwischen innen und außen, zwischen MIR und dem ANDEREN. Erst durch den Körperkontakt mit der Mutter lernt das Baby diese Grenze kennen. Es lernt auf Dauer, dass es nicht dasselbe ist wie die Mutter, sondern dass es ein eigenes Wesen ist. Mit eigenen Gefühlen und eigenen Wahrnehmungen. Paradoxerweise werden im Erwachsenenalter Selbstständigkeit und Individuation gefördert, wenn diese Menschen als Baby und Kleinkind genug positive Erfahrungen mit der eigenen Abhängigkeit gemacht haben: die Mutter/ das Mütterliche zu brauchen, den Körper der Mutter zu brauchen.


Noch ein Wort zum Körperkontakt: nicht jede Berührung ist kontaktvoll. Berührung kann hart sein, funktional, sexualisierend, sogar gewalttätig etc. Der Körperkontakt, den ich meine, ist Berührung in Resonanz mit dem Neugeborenen, ist eine wohlwollende Antwort auf seine Bedürfnisse; seine Qualität spiegelt die Qualität der Bindungsbeziehung wider.


Eine Antwort bekommen


Das Neugeborene braucht die Mutter, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Das kann es nicht allein. Ohne sie ist es hilflos. Ein Satz wie 'Mama kommt gleich wieder' ist für ein Neugeborenes nicht nur aus sprachlichen Gründen unverständlich. Es weiß nicht, was Zeit ist. Wenn Mama nicht da ist, dann kommt sie quasi nie wieder! Wenn sie zu lange nicht verfügbar ist, dann fühlt sich das Baby, als müsste es sterben. Dann ist es mutterseelenallein, von der ganzen Welt vergessen. Dann gibt es innerlich nichts mehr, was es hält und trägt. Es droht ins Nichts zu fallen! Panik! Todesangst! Psychisch droht das Kind dann 'auseinanderzufallen', 'sich zu verlieren'. Eine Erfahrung, die viele Menschen in Fallträumen angstvoll wiedererleben.


Die Möglichkeiten des Kindes, deutlich zu machen, was es braucht, sind begrenzt. Es ist darum wichtig, dass die Mutter lernt, die Signale zu verstehen. Dass sie versteht, wenn es Hunger nach Essen hat oder Sehnsucht nach Blickkontakt, nach Berührung oder Neugier nach Neuem oder wenn es sie braucht, um ruhig zu werden. In einem zweiten Schritt muss sie auf diese Signale in der richtigen Weise reagieren: dass es in Ruhe an ihrer Brust trinken kann, dass sie es regelmäßig an ihrem Körper trägt, damit es sich nicht zu ängstlich fühlen muss, dass sie seinem Blickkontakt begegnet, zärtlich zu ihm spricht und dass ihr Körper Ruhe vermittelt, wenn sich sein Körper in Aufregung verliert. Diese Antwort darf nicht zu lange auf sich warten lassen. Je kleiner das Baby ist, desto weniger kann es Aufschub tolerieren, desto weniger ist es in der Lage, die Wartezeit innerlich zu überbrücken, ohne von Angstgefühlen überwältigt zu werden.


Wieder ins Gleichgewicht kommen

Der Organismus des Babys ist nicht in der Lage, seine Gefühle zu regulieren. Ein Baby wird vollständig bestimmt durch seine Gefühle, die plötzlich aus seinem Inneren aufsteigen. Sind diese Gefühle zu stark z.B. aufgrund von Hunger, Schmerz, Angst etc. dann braucht das Kind den feinfühligen Kontakt mit der Mutter, um den Sturm der Gefühle, die durch seinen Körper jagen, zu beruhigen. Es braucht ihre Anwesenheit, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Dadurch lernt es sehr viel: Ihre Gelassenheit und ihre innere Ruhe geben ihm auf Dauer die Sicherheit, dass Gefühle und Bedürfnisse zu haben nicht dramatisch ist, sondern zu Befriedigung führen kann. Sie zeigt ihm, dass und wie man sich beruhigen kann. Biologisch gesagt, wird durch die Bindungssicherheit mit der Mutter der Aufbau des Präfrontalen Cortex gefördert: Er entwickelt sich rasant- gerade im ersten Lebensjahr. Ist dieser Teil des Gehirns gut genug entwickelt, dann ist der Erwachsene in der Lage, seine Bedürfnisse aufzuschieben, Frustrationen auszuhalten und dazugehörende Gefühle und Affekte zu regulieren. Ein Erwachsener z.B., der sofort zuschlägt, wenn er frustriert wird, ist nicht fähig, das kreative Denkvermögen des Präfrontalen Cortex bei der Lösung dieses Problems einzusetzen. Es mangelt dann an einer wichtigen psychischen Funktion: der sogenannten Affektregulation.


Die Regulation der Affekte lernt das Baby also durch positive Bindungserfahrungen: durch angemessene emotionale Antworten der Mutter auf die Bedürfnisse des Kindes und durch die Erfahrung, dadurch wieder in ein emotionales und körperliches Gleichgewicht zu kommen. Die landläufige Auffassung, dass das Baby durch Frustration seiner Bedürfnisse lernt, diese zu kontrollieren und zu regulieren, war und ist ein hartnäckiger und folgenschwerer Irrtum, mit großen Folgen für die psychische und körperliche Gesundheit. Sie wird von der modernen Hirnforschung eindeutig widerlegt.


Trennung tut weh und hat Folgen


Risse im Fundament der postnatalen Beziehungsgestaltung entstehen dann, wenn das tiefe Bedürfnis des Neugeborenen nach einem befriedigenden Kontakt mit seiner Mutter nicht möglich ist. Dies ist in besonderer Weise dann der Fall, wenn es zu lange von ihr getrennt ist. Wie schon erwähnt ist dies eine Situation, die extremen Stress und Verzweiflung im Kind hervorruft. Bowlby, ein englischer Kinderpsychiater und der Begründer der Bindungstheorie beschreibt, wie Babys und Kleinkinder mit diesem Stress umgehen.


Zuerst protestiert es durch lautes Schreien gegen diesen Zustand. Dauert der Zustand an, wird es apathisch. Es überwiegt ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit und der Trauer um den Verlust der Mutter. In einer dritten Phase schließlich scheint sich das Kind zu erholen. Es hat sich angepasst und reagiert scheinbar 'normal' auf die Pflegepersonen. Innerlich allerdings spielt sich etwas anderes ab. Das Kind hat sich von der Bindungsperson abgewandt. Es erwartet nichts mehr von der Welt der Menschen. Es hat sich abgefunden mit einem Leben, in dem es allein ist und kein Kontakt und keine Hilfe zu erwarten ist.


Welche Folgen das haben kann, möchte ich ganz kurz an einem Beispiel erläutern. Eine Klientin von mir wurde im Alter von 1 1/2 Jahren ins Krankenhaus eingeliefert. Dort blieb sie zwei lange Jahre. Ihre Mutter kam sie in der Zeit nur einmal in zwei Wochen besuchen, da das Krankenhaus weit entfernt war vom Wohnort. Ihr Vater, ein Kapitän, war noch seltener da. Als die Klientin mir das erste Mal diese Geschichte erzählte, sprach sie darüber ohne jegliches Gefühl. Viel später kamen diese Ereignisse ihr schmerzhaft zu Bewußtsein. Alte Gefühle von totaler Verlassenheit kamen hoch. Sie konnte sie nur gut dosiert aushalten. Obwohl diese Gefühle für sie alles andere als angenehm sind, sagte sie mir neulich, dass sie das Gefühl hat, dass genau dieses Ereignis der Schlüssel zu ihren Problemen ist: da, in diesem Krankenhaus hat sie gelernt, dass Menschen nicht zu vertrauen sind. Dass es schmerzhaft, unerträglich schmerzhaft ist, sich an Menschen zu binden. Dass es besser ist, sich auf sich selbst zu verlassen und Gefühle jeglicher Art lieber abzuschneiden.


Die Bauarbeiten an ihrem emotionalen Fundament sind damals nicht nur stagniert; schlimmer noch, das, was schon da war, wurde sogar aktiv abgebrochen: ein Leben in Einsamkeit und Bindungsangst und großer innerer Anstrengung ist die Folge. Wer denkt, allein zu sein und alles allein machen zu können oder zu müssen, überfordert seine Psyche.


Je früher, desto besser!


Das Beispiel zeigt aber auch, dass ein brüchiges Fundament repariert werden kann. Dass der Organismus in der Lage ist, ja nicht selten händeringend darauf wartet, 'heil' zu werden. Besonders bei kleinen Kindern ist viel möglich.


Allen, die mit Kindern zu tun haben und allen, die jemals selbst Kind gewesen sind, möchte ich am Schluss sagen: Schaffen sie Raum für die emotionalen Bedürfnisse der Kinder! Schaffen Sie Raum für die emotionalen Bedürfnisse der Eltern! Schaffen Sie in ihrer Arbeitsstelle aber auch Raum für Ihre eigenen emotionalen Bedürfnisse! Je früher, desto besser!


Gerade Ihnen, die Sie diese kleinen Menschen und ihre Eltern in schwierigen Lebenssituationen begleiten, möchte ich am Schluss sagen: Schaffen sie Raum für die emotionalen Bedürfnisse der Kinder! Schaffen Sie Raum für die emotionalen Bedürfnisse der Eltern! Schaffen Sie in ihrer Arbeitsstelle aber auch Raum für Ihre eigenen emotionalen Bedürfnisse! Je früher, desto besser!

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